Ohne Europa wäre die Deutsche Einheit nicht möglich gewesen. Beide greifen wie zwei Zahnräder ineinander. Helmut Kohl, dem Kanzler der Einheit, ist es 1990 dank seiner weitsichtigen Europapolitik und geschickten Diplomatie gegenüber den Alliierten gelungen, den europäischen Kontinent mit der Wiedervereinigung des geteilten Deutschland zu versöhnen. Ich habe Helmut Kohl persönlich erstmals am 20. Februar 1990 erlebt. Als damaliger Bundeskanzler sprach Kohl vor den ersten freien Wahlen in der DDR vor etwa 100.000 begeisterten Menschen auf dem Erfurter Domplatz. Dieser Ort hatte Symbolcharakter. Schließlich waren die Kirchen der Motor der Friedlichen Revolution, die schon weit vor 1989 in Erfurt mit den Donnerstagsgebeten begonnen hatte und sich mit den Montagsgebeten in vielen Kirchen der DDR fortgesetzt hatte.
Der Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989 als Symbol der deutschen Teilung und der Unfreiheit, die Zwei-plus-Vier-Verhandlungen mit den vier Alliierten Mächten ab 5. Mai sowie die Unterzeichnung des Einigungsvertrages am 3. Oktober 1990 führten zur Wiedervereinigung des geteilten Deutschland in Frieden und Freiheit. Damit war das Jahrhundertproblem des 20. Jahrhunderts gelöst: die deutsche Frage.
Abschied von der bipolaren Weltordnung
Das war zugleich das Ende des Kalten Krieges und des Eisernen Vorhangs mitten durch Europa. Und das war der Abschied von der bipolaren Weltordnung. Die Zugehörigkeit des vereinten Deutschland zum Atlantischen Bündnis – heute wieder hoch aktuell – nahm der Welt die Sorge vor deutscher Großmachtpolitik. Das wiedervereinigte Deutschland war fest eingefügt in die westliche Allianz und in die Europäische Gemeinschaft.
Und Thüringen wurde wieder Freistaat im föderalen Gefüge der Bundesrepublik Deutschland. Dass Thüringen 2022 die Zentralen Feierlichkeiten unter dem einzigem Linken als Ministerpräsident und derzeitigem Bundesratspräsident durchführt, das hätten wir uns 1990 nicht einmal im Traum vorstellen können.
Im Jahr 2022 erinnern wir an 30 Jahre Maastricht-Vertrag, der die frühere Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) in die Europäische Union (EU) umgewandelt hat. Vor wenigen Wochen ist Gorbatschow gestorben. Als größter Reformer des 20. Jahrhunderts hat er mit seinen freiheitlichen Ideen Perestroika und Glasnost den Weg zur Deutschen Einheit bereitet. Nicht auszudenken, wenn ein Diktator wie Putin damals die damalige Sowjetunion beherrscht hätte. Mit Putins brutalem und völkerrechtswidrigem Angriffskrieg gegen die Ukraine tobt mitten in Europa wieder ein fürchterlicher Krieg.
Das traurige Ende von 77 Jahren Friedensordnung in Europa
Was nicht nur mich persönlich als Europaabgeordnete besonders bedrückt, das ist die Tatsache, dass dieser Angriffskrieg gegen die Ukraine und letztlich gegen die Werteordnung der gesamten westlichen Welt letztlich das Ende von 77 Jahren Friedensordnung in Europa bedeutet. Das werden einst die Historiker in den Geschichtsbüchern festhalten. Für mich war die Europäische Union schon immer weit mehr als eine wirtschaftliche und politische Union souveräner Staaten. Die EU war für mich von Anfang an eine Werteunion und Friedensunion.
Doch nach 77 Jahren Weltmachtfrieden, dem längsten der Staatengeschichte, ist das Unvorstellbare, das Unfassbare zurück: ein Krieg mitten in Europa, entstanden aus einem ideologischen Großmachtwahn. Putin will das Rad der Geschichte mit Gewalt zurückdrehen.
Es steht nicht allein die Ukraine auf dem Spiel, sondern die Friedensordnung Europas und der westlichen Welt. Die mutigen Ukrainer verteidigen auch unsere freiheitliche Werteordnung.
„Du magst am Krieg nicht interessiert sein“, so hat es einmal Leon Trotzki gesagt, „aber der Krieg interessiert sich für dich“. Genau das ist die fatale Realität heute. Putins Raubzug gegen die Ukraine läuft seit Jahren mit dem Höhepunkt des Angriffskrieges gegen die Krim. Doch der des Kalten Krieges überdrüssige Westen hatte Carl von Clausewitz Diktum völlig verdrängt: „Der Krieg ist die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln unter Beimischung von Blei“. Und aus dem Blei der Gewehrkugeln sind heute ferngesteuerte Raketen geworden mit nie gekannter Zerstörungsmacht.
Und wir hatten bei uns in Deutschland Jahrzehnte lang die „Friedendividende“ kassiert, wir hatten die Bundeswehr nach dem Ende des Kalten Krieges in Europa verkommen lassen, wir hatten die edle, vornehme Kultur der Zurückhaltung als höchste Moral zelebriert. Doch immerhin ist heute Realismus auch zum moralischen Prinzip geworden. Bundeskanzler Olaf Scholz hat dafür den Begriff „Zeitenwende“ geprägt. Neuere Umfragen bestätigen das Wunder, das der Ukrainekrieg in den Köpfen und Umfragen der Deutschen ausgelöst hat.
„Russlandversteher“ tummeln sich fast nur noch bei der AfD und bei großen Teilen der Linken.
Interessant war es für mich, den Kommentar des großen britischen Historikers Tomothy Garton Ash über Putins Angriffskrieg auf die Ukraine in der Süddeutschen Zeitung zu lesen:
„Dies ist nicht der Dritte Weltkrieg. Es ist jedoch bereits jetzt etwas sehr viel Ernsteres als die sowjetischen Invasionen 1956 in Ungarn und 1968 in die Tschechoslowakei. Die Kriege im früheren Jugoslawien in den Neunzigerjahren waren schrecklich, aber die damit verbundenen internationalen Gefahren hatten nicht diese Dimension. Russland ist nun der größte Schurkenstaat der Welt. Er wird regiert von einem Präsidenten, der das Gebiet des rationalen Kalkulierens verlassen hat.“ Dies schreibt einer der renommiertesten Historiker. Es wird vermutlich viele Jahrzehnte dauern, bis die Welt die Folgen aus dem 22. Februar, dem Tag des Überfalls auf die Ukraine, bewältigt haben wird. Die weltweite geostrategische Tektonik hat sich völlig verändert. Das hat auch Folgen für die EU. Aber auch für China.
EU und der Westen fest an der Seite der Ukraine
Putins Überfall auf die Ukraine hat die EU und den Westen so eng wie nie zuvor zusammengeschweißt. Dies reicht von den wirtschaftlichen und finanziellen Sanktionen bis hin zur militärischen Waffen-Unterstützung für die Ukraine, ohne dass die EU und die NATO zur Kriegspartei werden wird. Das könnte sonst in der Tat einen Dritten Weltkrieg auslösen, was eine noch größere Katstrophe wäre.