Großbritannien bleibt auch als Drittland wichtiger Partner der EU
Nach 47 Jahren EU-Mitgliedschaft und einem Jahr Übergangszeit verlässt das Vereinigte Königreich als erstes Mitgliedsland die EU und damit den Binnenmarkt und die Zollunion. In letzter Minute konnte der Hard Brexit abgewendet werden. An Heiligabend einigten sich die EU und Großbritannien auf den Brexit-Deal. Das Chaos am Ärmelkanal lieferte einen Vorgeschmack auf einen No Deal. Populisten wie Nigel Farage und Boris Johnson hatten mit ihrer britischen Empire-Nostalgie und ihrem verquasten Souveränitäts-Verständnis ein riskantes Pokerspiel mit der politischen und ökonomischen Zukunft ihres Landes betrieben. Von Anfang an war klar: Es wird bei diesem Streit keinen Sieger geben. Die EU verliert ein bedeutendes Mitgliedsland. Großbritannien verliert die Chance, die Zukunft Europas aktiv mitgestalten zu können. Der Brexit wird sich als historischer Fehler erweisen.
Brexit-Freihandelsabkommen
Nach fast einem Jahr zermürbender Verhandlungen gebühren dem Chefunterhändler der EU, Michel Barnier, dem Brexit-Verhandler der Briten, David Forst, und dem Vorsitzenden der UK-Coordination Group im Europäischen Parlament, David McAllister, Dank und Anerkennung für ihr Verhandlungsgeschick. Der Brexit-Deal ist ein in der Tat historisches Abkommen. Der Brexit-Freihandelsabkommen schützt die Interessen der EU und ist fair gegenüber den Briten.
Auch für Thüringen ist der Deal ein Gewinn. Die britische Wirtschaft zählt nach den USA und China zu den wichtigsten Außenhandelspartnern der Thüringer Unternehmen, vor allem beim Fahrzeug- und Maschinenbau. 2019 hat die Thüringer Wirtschaft Waren in Höhe von 1,1 Milliarden Euro nach Großbritannien exportiert. England ist das zweitwichtigste Exportland für Thüringen. Großbritannien importierte nach Thüringen Waren im Wert von 1,2 Milliarden Euro und liegt damit bei Thüringens Importländern auf Platz eins noch vor China.
Laut Statistischem Bundesamt lag im vergangenen Jahr das gesamte Exportvolumen von Deutschland nach Großbritannien bei 79 Milliarden Euro, der britische Export nach Deutschland bei 38 Milliarden Euro.
Die EU ist der wichtigste Handelspartner der Briten. In der EU belief sich das Volumen des Warenhandels 2019 mit Großbritannien auf 414 Milliarden Euro. Mit der EU wickeln die Briten fast die Hälfte ihres weltweiten Handels ab. Mehr als die Hälfte der britischen Importe kamen im vergangenen Jahr aus der EU.
Großbritannien ist also ein bedeutender Wirtschaftspartner der EU, Deutschlands und Thüringens. Daher ist es so wichtig, dass das Vereinigte Königreich auch nach dem Brexit-Deal ein wichtiger politischer und wirtschaftlicher Partner der EU bleibt. Es ist nun Drittland, teilt aber die mit der EU die gleichen Werte. Ohne Abkommen würden Zölle nach WTO-Konditionen erhoben. Großbritannien braucht die EU mehr als umgekehrt.
Die EU hat sich bei den Brexit-Verhandlungen entschlossen und geschlossen, flexibel, solidarisch und handlungsfähig gezeigt. Am Ende haben sich Standfestigkeit und Gemeinsamkeit der EU ausgezahlt. Europäische Solidarität hat ihre Stärke gezeigt. Dies gibt der EU Auftrieb. Die EU war von Anfang an in einer guten Verhandlungsposition und hat diese allen Provokationen zum Trotz vernünftig genutzt. Die EU war optimal auf die Brexitfolgen vorbereitet. Im neuen EU-Haushalt stehen für die Brexit-bewältigung 5 Milliarden Euro zur Verfügung. „Vernunft schlägt Fisch“– so titelte die Presse. Am Ende hat die Vernunft gesiegt. Der Brexit wird kein Türöffner für andere europafeindliche Populisten werden. Keiner will dem britischen Weg folgen.
Der eigentliche Knackpunkt bei den Brexit-Verhandlungen waren nicht die wirtschaftlich nicht besonders bedeutende Fischereifrage, sondern gemeinsame Wettbewerbsregeln. Hier konnte die EU in ihrer souveränen Position EU-Mindeststandards und einen robusten Sanktions-Mechanismus für künftige Streitfälle durchsetzen.
Bis auf wenige marginale Änderungen bei den Fischquoten entspricht der Brexit-Deal weitgehend dem, was die EU schon im Sommer Großbritannien offeriert hatte. Drei große Streitthemen konnten ausgeräumt werden: Fischereiquoten, fairer Wettbewerb und der Streitschlichtung-Mechanismus. Wie alle Handelsabkommen ist der Brexit-Deal ein klassischer Kompromiss. Jetzt haben Bürger, Politik und Wirtschaft Planungssicherheit. Seit dem Brexit-Deal steigt der DAX auf ein Rekordhoch.
Die Brexit-Handelsvereinbarung ist die bisher weitreichendste, die die EU je mit einem Staat außerhalb der EU je abgeschlossen hat. Der zollfreie Handel bleibt, und zwar ohne Mengenbegrenzungen, aber jetzt mit Warenkontrollen an den Grenzen zur Überprüfung der vereinbarten Umwelt-, Qualitäts- und Sozialstandards. Der Brexit-Deal sieht die ehrgeizigsten Verpflichtungen zur Liberalisierung des Marktzugangs für Waren vor, die jemals in einem EU-Freihandelsabkommen enthalten sind.
Das Abkommen spiegelt die moderne Handelspolitik der EU wider, zum Beispiel mit der ehrgeizigen Verpflichtung zum Schutz der Arbeitnehmer- und Verbraucherrechte, zum Umweltschutz, zum Klimaschutz und zur Steuertransparenz. Dadurch wird sichergestellt, dass der Handel nicht nur offen, sondern auch fair und nachhaltig ist. Dies begünstigt auch die Kreislaufwirtschaft, indem die Vorzugsbehandlung auf Produkte ausgedehnt wird, die repariert oder wiederaufbereitet wurden. Ganz nach dem Prinzip: “Level Playing Field and Sustainability”. Genau das fällt in meine Ausschussarbeit.
Das Abkommen regelt nicht nur den Handel mit Waren und Dienstleistungen, sondern auch Investitionen, Wettbewerb, staatliche Beihilfen, Steuertransparenz, Luft- und Straßenverkehr, Energie und Nachhaltigkeit, Fischerei, Datenschutz und Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit. Es sieht Nullzollsätze und Nullkontingente für alle Waren vor, die den entsprechenden Ursprungsregeln genügen. Beide Parteien haben sich verpflichtet, solide und gleiche Wettbewerbsbedingungen zu gewährleisten. Dabei wird es eine wirksame innerstaatliche Durchsetzung und einen verbindlichen Streitbeilegungs-Mechanismus geben.
Zwar wird es keine Zölle und Quoten geben. Britische Exporteure werden aber für den zollfreien Import in die EU aufwändig nachweisen müssen, dass ihre Produkte überwiegend im eigenen Land hergestellt wurden. Und sie müssen belegen, dass ihre Ware die Regeln der EU zur Lebensmittelsicherheit oder die EU-Produktestandards erfüllen. Allerdings klammert der Deal den gewichtigen Finanz- und Dienstleistungssektor aus, in dem Großbritannien immerhin 80 Prozent seiner Wirtschaftsleistung erzielt. Auch wenn Großbritannien keinen Zugang mehr zum EU-Binnenmarkt, zur Zollunion, zum Corona-Hilfspaket, zur Impfstrategie, zu internationalen Abkommen und zum Erasmus-Programm für den Studentenaustausch hat, garantiert das Abkommen ein faires Miteinander. Es dient letztlich der Schadensbegrenzung.
Die 27 EU-Botschafter haben dem Abkommen bereits zugestimmt, die Bundesregierung hat grünes Licht gegeben, das Britische Parlament will am 30. Dezember zustimmen. Alle 27 Mitgliedsstaaten müssen noch zustimmen. Und wir werden im Europaparlament das über 1200-Seiten lange Abkommen sorgfältig prüfen und zum Jahresbeginn darüber abstimmen. Ich bin mir sicher: An unserer Zustimmung wird das Abkommen nicht scheitern. Das Abkommen wird zum 1. Januar 2021 vorläufig in Kraft treten.
Ich bin erleichtert und werde nun die Texte studieren, vor allem in den Passagen, die für meine Ausschussarbeit wichtig sind: Binnenmarkt, Künstliche Intelligenz und Produktsicherheit. Das Europaparlament sollte eine Nachbesserung ins Auge fassen: Großbritannien sollte sich auch künftig an sich ändernde EU-Standards anpassen.
Das Freihandelsabkommen ist auch eine Chance für die EU, künftig in zentralen Fragen geschlossen und entschlossen zu handeln. Der Brexit hat den Zusammenhalt der übrigen 27 Länder gestärkt.